Liebe Leserinnen, liebe Leser,
60 Millionen Menschen sind unterwegs – ohne Besitz, ohne Geld, ohne Wohnung! Sie sind auf der Flucht und suchen Schutz und Hilfe bei ihren Mitmenschen. In einigen Ländern werden sie mit offenen Armen empfangen, willkommen geheissen, unterstützt und beschenkt. Was für eine Wende im Umgang miteinander! Die Helfenden tun dieses aus dem Herzen heraus. Manche erinnern sich an ihre eigene Flucht oder denken an die Flucht ihrer Eltern, über die sie so viel gehört haben. Sie wissen, wie schwer und mühselig das Leben auf der Flucht sein kann und wie schrecklich der Verlust des gesamten Besitzes, der Freiheit und des angenehmen Lebens.
Die Helfer fühlen Empathie, wollen mit anderen teilen, von ihrem Reichtum abgeben! Die Beschenkten sind überaus dankbar, freuen sich über soviel Hilfsbereitschaft.
An dieser Stelle möchte ich meine eigene Erfahrung einbringen, denn auch ich lebe seit fast 20 Jahren ohne eigenes Geld, ohne eigene Wohnung, mit wenig Besitz. Bei mir liegt kein Notfall vor. Meine eigene Flucht geschah vor 70 Jahren, und ich habe mich längst von ihr erholt. Aber dieses Erlebnis aus meiner frühen Kindheit prägte mein Leben. Auch damals gab es Menschen, die aus dem Herzen halfen, die teilen wollten so gut es ging. Dennoch wurde ich lange nicht das Gefühl los, ein Mensch zweiter Klasse zu sein. Damals war es ein Makel, zu den Flüchtlingen zu gehören! Im Laufe meines Lebens habe ich daran gearbeitet, dieses negative Gefühl in ein positives zu verwandeln. Ich habe mir und der Welt bewiesen, dass ein Mensch wertvoll ist und in Würde leben kann, auch wenn er das ohne Besitz und materiellen Reichtum tut.
Wenn ich an die heutigen Flüchtlinge denke, fällt mir ein, dass es unbedingt notwendig ist, sie von Anfang an in Augenhöhe zu holen, ihnen zuzutrauen, dass ihre Fähigkeiten eine Gesellschaft bereichern können. Sie sind nicht gekommen, um uns etwas wegzunehmen, denn aus eigener Erfahrung weiss ich, dass jeder Mensch auch geben möchte.
Allerdings braucht es Möglichkeiten dafür. Ich habe mir überlegt, dass das „Gib&Nimm Prinzip“ hier greifen könnte. Eine Liste müsste erstellt werden mit den Angeboten der Talente der neu Hinzugekommenen. Sicherlich verfügen viele über handwerkliche Qualitäten, über Mechaniken, über medizinisches Knowhow, über musische Talente, über
Hauswirtschaftliches, Pädagogisches und vieles mehr.
Als wir damals in der Dortmunder „Gib&Nimm Zentrale“die Menschen nach ihren Fähigkeiten befragten, gab es einige, die erstmal mitteilten, dass sie nichts Spezielles könnten und eigentlich gar nicht auf die Liste gehörten. Bei fast allen konnten wir allerdings im Anschluss an die Befragung mehrere Dinge vermerken. Z.B. kochen, backen, Blumen arrangieren, gut mit Tieren umgehen, Fahrrad reparieren, als Chauffeur
fungieren und vieles mehr. Unsere Liste umfasste mehrere Seiten. Von allem gab es etwas. Genauso könnte es mit den Eingereisten geschehen, wenn sie erstmal in einer festen Unterkunft wohnen.
Von den Medien erfuhr ich schon Beispiele für dieses neue Miteinander. Ein paar Menschen bieten ihre Häuser für ein Übergangswohnen an, natürlich ohne Miete zu erwarten. Dafür helfen die „Mieter“ im Garten, im Haus, reparieren und bringen sich ein, so gut es geht. Beide Parteien spüren die Bereicherung und sind glücklich darüber. Aus einer Gemeinde erfuhr ich, dass sich unterschiedliche Gruppen gebildet haben. Da wird afrikanisch oder arabisch gekocht, eine Fahrradwerkstatt wurde eingerichtet und eine Nähstube.
Ein junger Mann in einer deutschen Kleinstadt kam auf die Idee, von einem Bauern ein Stück Land zu pachten, auf dem er mit den Vätern und Kindern eines Asylantenheimes einen Abenteuerspielplatz baut und ein Stück Land zum Gärtnern den Frauen überlässt. Er selber ist glücklich über die intensiven Kontakte und über die Möglichkeit, sich mit neuen
Sprachen zu befassen.
Meine Überlegungen gehen noch einen Schritt weiter: gäbe es jetzt nicht eine Chance, ein ganz neues System einzuführen? Ein Miteinander ohne Geld? Mir erscheint so eine Gesellschaft durchaus erstrebenswert. Die Menschen wachsen in etwas Neues hinein. Geistige Werte lösen die jetzigen materiellen ab. Es gilt nicht mehr, besser sein zu wollen als die anderen sondern über unsere Gleichwertigkeit nachzudenken und sie
zu leben. Ganz andere Dinge stehen im Mittelpunkt als die heutigen. Die Menschen merken, wieviel einfacher ein Sein ohne zuviel Ballast, ohne Konkurrenz und das sich ständig mit anderen Vergleichen ist. Ein Leben ohne Geld hat so viele Vorzüge, dass ich gleich drei Bücher darüber geschrieben habe.
Ein „Umdenken“ könnte schrittweise erfolgen und nur mit den Menschen, die dieses Experiment ausprobieren wollen, denn auch hier darf es keinen Zwang, kein Überstülpen oder andere Machenschaften geben, die zu einem anderen Leben führen sollen.
Zu Beginn von „Gib&Nimm“ schrieb ich einmal an den Oberbürgermeister von Dortmund, um ihm meinen Plan vorzustellen: Die Stadt gibt Überflüssiges (z.B. Theater- oder Kinokarten, auch schon mal Tickets für Busse, die nicht ausgelastet waren und ständig leer durch die Gegend fuhren) kostenfrei aus und „gib&nimm“ bietet notwendige
Arbeiten dafür an: die Sauberhaltung der Bushaltestellen z.B. oder den Empfang von
Menschen auf dem Bahnhof, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind.
Wir hatten viele Ideen, aber sicher fand der OB das alles nur spinnert und nicht ernst zu nehmen.
Die Zeiten haben sich geändert, und ich glaube, dass wir gemeinsam nach neuen Wegen suchen sollten!
Einen angenehmen Herbst wünscht Heidemarie im September 2015
P.S. Meine Flucht damals im Jahr 1944 ging aus von Memel in Ostpreussen, dem heutigen Klaipeda in Litauen. Vor einem Monat erhielt ich eine Einladung von der dortigen Universität für einen Vortrag über mein geldloses Leben und meine Philosophie dazu. Sie laden Menschen ein, die in Klaipeda(Memel) geboren wurden und durch irgendetwas bekannt geworden sind. So schließt sich für mich ein Kreis!