Liebe Leser und Leserinnen,
„du musst noch viel genauer erklären, was du unter „gib und nimm“
verstehst, wie die Projekte gedacht sind, damit die Leser sich animiert
fühlen, sofort etwas davon umzusetzen,“ sagte neulich eine Freundin zu
mir. Die vielen Anfragen zu den Projekten bestätigen mir, dass meine
Freundin Recht hat. Dennoch weigere ich mich – bin ich vielleicht
wirklich ein sturer Steinbock (ziege)?- diese Ratschläge anzunehmen,
geschweige denn umzusetzen.
Mein Ansatz ist, Impulse zu geben, nicht Anweisungen. Die Kreativität
spielt bei „gib und nimm“ ja eine Hauptrolle! Da ist dann die eigene
Schöpfung gefragt.
Als Beispiel hierfür möchte ich unseren letzten „gib und nimm workshop“
anführen. Er fand in Schleswig-Holstein statt, genauer in der
Ostholsteinischen Schweiz, in der Nähe von Lütjenburg. Zehn Frauen
trafen sich in der alten Schule, die Astrid Eobaldt mit Liebe in den
letzten Jahren renoviert und eingerichtet hat. Ein großer Seminarraum, das
frühere einzige Klassenzimmer der einstigen „Volksschule“- mehrere kleine
Doppelzimmer und ein Schlafsaal für ca 15 Personen, ein bequemes
Wohnzimmer mit Kamin, eine Küche mit Essraum und ein Büro, boten Platz
für alle.
Ausserdem lockte der schöne wilde Garten mit unterschiedlichen Sitzecken
bei dem sonnigen Wetter nach draußen. Sauna und Wellnessgeräte taten ein
Übriges, um uns alle in eine gute Stimmung zu versetzen.
Dass wir diesmal wieder nur Frauen waren, hat auf keinen Fall mit einer
Männerfeindlichkeit zu tun, sondern eher mit einer besseren Unterstützung
für die Frauen. Ich habe in vielen workshops beobachtet, dass Frauen sich
schnell zurücknehmen, um den Männern Platz zu machen für ihre Eingaben.
Wir Frauen brauchen noch Zeit, um in unser Wertgefühl zu kommen.
Und darum fanden die letzten workshops ohne Männer statt.
Thema der Begegnung war einmal „jede kann was, was nicht jede kann“
-nach dem „gib und nimm Lied“ von Paul Roos – und zweitens „ohne Geld
durch die Welt“. In den vier Tagen durfte nicht eingekauft werden. Geplant
waren Tauschaktionen mit Bauern oder Geschäften in der Nachbarschaft, wie
wir es schon früher gemacht hatten. Bei der Einladung war allerdings darum
gebeten worden, dass jede bei sich zu Hause schaut, was sie an
Lebensmitteln mitbringen könne. Es stellte sich heraus, dass genug
mitgebracht worden war und wir ein Leben in Fülle führten während unseres
Beisammenseins.
Ich hatte Astrid darum gebeten, alle Verantwortungsgefühle für das Haus
abzugeben und sich der Tatsache bewusst zu sein, dass ihre Gabe sehr
großzügig und reichlich war durch die Bereitstellung ihres Besitzes für
die fremden Frauen. Diese Bitte ergab sich aus meinen Beobachtungen bei
früheren Treffen in anderen Häusern. Da die Besitzer sich für alles
verantwortlich fühlten – schliesslich waren sie ja die Gastgeber – konnten
sie nicht in dem Umfang geniessen, was es zu geniessen gab.
Astrid war sehr erstaunt, wie gut ihr eine Verhaltensänderung gelang, denn
auch sie kannte nur allzugut ihre verantwortungsvolle Gastgeberrolle aus
früheren Zeiten.
Bei unserer ersten Vorstellungsrunde teilte ich mit, dass es kein Programm
gäbe, weil ich nicht wüsste, wie sich die einzelnen Gaben in das
Tagesgeschehen einbetten liessen. Der Befürchtung einer Strukturlosigkeit
baute ich vor, indem ich meine Wünsche äusserte und gleichzeitig die
Wünsche der anderen Frauen einforderte. Ein lockeres Programm ergab sich
schnell daraus. Meditationen zu bestimmten Zeiten, ein gemeinsam
geschaffenes Kunstobjekt an der nahegelegenen Ostsee, Bade- und
Spaziergangszeiten, Behandlungsangebote der Heilerinnen, spezielle
Kochkünste und einiges mehr füllte unsere Tagespläne.
Diese wurden jedoch nicht aufgeschrieben oder geordnet, sondern wir
schöpften unentwegt und ungeplant aus dem riesigen Potential, das in uns
allen schlummert. Alle waren begeistert und konnten zum Teil gar nicht
fassen, wie locker und leicht die Tage sich gestalteten. Ich war besonders
gerührt, weil es genau das ist, was mein Leben ausmacht und was ich so
schlecht erklären kann. Diesmal erfuhren die anderen genau das bei sich,
und in mir jubelte es, weil ich mich endlich verstanden fühlte.
Bei unserer Abschlussrunde stellte sich heraus, dass für die meisten
Teilnehmerinnen diese Tage wie Urlaub oder wie Wellnesstage gewesen
waren. Diejenigen, die dieses Treffen mit anderen Seminaren verglichen,
zogen eine Bilanz in finanzieller Hinsicht. Normalerweise ginge für so
ein Seminar ein ganzes Monatsgehalt drauf für Übernachtung, Verpflegung
und die effektiven Behandlungen. Dass so etwas Wunderbares auf diese
einfache Art möglich sei, fanden einige Frauen sensationell.
Wie lässt sich dieses „sensationelle“ Leben, das ich ständig führe, nur
erklären und weitergeben?. Von den „Wellnesstagen“ an der Ostsee geht es
für mich gleich weiter in das nächste Abenteuer. Ich bin einer
Freundin bei der Gestaltung ihrer Geburtstagsfeier, die sie im Vorab
schlaflose Nächte kostete, behilflich. Aus meinem früheren Lehrerinnendasein
schöpfe ich lustige Gesellschaftsspiele, die uns einen fröhlichen
Nachmittag bescheren.
Mein Koffer ist gepackt für meinen morgigen Flug nach Florenz, wo
der Sommer immer noch zu Gast ist. Nebenbei werde ich mit anderen
engagierten Gruppen über Möglichkeiten für eine neue Welt
diskutieren.
Ich werde in Österreich und in der Bundesrepublik in Schulen, mit
Jugendlichen, in Kirchengemeinden und anderen Gruppen darüber
sprechen, wie anders Leben sein kann, wenn wir uns einlassen, vielleicht mal
ein Risiko eingehen und wenn wir sehen können, dass ein marodes System
losgelassen werden muss. Mir ist durchaus bewusst, dass mein
privilegierter Zustand, immer im richtigen Moment das tun zu können, was
mir wirklich Freude bereitet, sich wesentlich von der Lebenssituation
derjenigen unterscheidet, die in den Zwängen des Alltags gefangen sind.
Dennoch gibt es kleine Schritte, die in neue Denkmuster führen, uns von
Ängsten befreien und mit unserer ursprünglichen Quelle verbinden.
Einen schönen Spätsommer wünscht Heidemarie Schwermer im September 2009